Castel del Monte: Ikone des idealen Staates, Tempel der unsterblichen Seele

Foto: Luftbild, anonym, 1878 (histor. Postkarte Anfang des 20. Jhds.; Privatbesitz)


Castel del Monte, ein herausragendes Symbol des Burgenbaus im hohen Mittelalter, strahlt eine ungebrochene Faszination aus, wenngleich Intention und Funktion des Bauwerks bis heute rätselhaft geblieben sind. So fortifikatorisch Castel del Monte auf den ersten Blick erscheint, entspricht die Architektur tatsächlich kaum den Erfordernissen eines Wehrbaus, schon gar nicht nach den Standards des aus normannischer Tradition kommenden süditalienischen – oder gar des besonders fortschrittlichen französischen Burgenbaus. Auch alle anderen in Betracht zu ziehenden Bautypologien – etwas des Palastbaus, der Jagd- oder Lustschlossarchitektur – finden keine hinreichenden Korrespondenzen. Die Forschung kommt darin überein, dass es sich um ein vollkommen singuläres Bauwerk handelt, welches in keine zeittypische Kategorie zufriedenstellend eingeordnet werden kann, wobei verschiedene Einflüsse antiker, islamischer, romanischer und gotischer Stile nachweisbar sind. Die harmonische Synthese solcher Stile, welche zugleich etwas Neuartiges hervorbringt, steht in der Tradition des synkretistischen normannischen Baustils in Süditalien, geht jedoch darüber hinaus und wird von prominenten Kunsthistorikern, bereits seit Georg Dehio, als Ausdruck einer kurzen, aber intensiven Phase der Proto-Renaissance in Apulien bewertet. Die Forschung ist sich auch weitgehend einig darüber, dass die vielen Besonderheiten, welche die Einzigartigkeit Castel del Montes ausmachen, mit der Persönlichkeit ihres Erbauers, des letzten Stauferkaisers Friedrich II. (1194-1250), in Zusammenhang stehen. Stefania Mola spricht von einem „friderizianischen Klassizismus“ (1).


Friedrich II. ist herausgefordert, das Königreich Sizilien, welches zu seiner Zeit sowohl die Insel Sizilien als auch das Gebiet des späteren Königreichs Neapel umfasst, gegen viele Anfeindungen zu verteidigen. Nach dem Tod seines Vaters, des Kaisers Heinrich VI. (+1197), lässt ihn seine Mutter, die Normannin Konstanze von Sizilien, bereits im Alter von drei Jahren (1198) zum König krönen. Kurze Zeit nach dieser Krönung stirbt auch Konstanze und hinterlässt ihren Sohn, noch keine vier Jahre alt, als Vollwaisen. Nicht nur die Krone des Königreichs Sizilien ist nun jahrelangen Machtkämpfen ausgesetzt, auch die deutsche Krone wird zum Gegenstand des Streits, denn die bereits erfolgte Wahl Friedrichs II. zum römisch-deutschen König verliert angesichts der harten Wirklichkeit ihre Wirksamkeit. Rund ein Jahrzehnt lang erschüttert der deutsche Thronstreit – zwischen Philipp von Schwaben und Otto IV. – die Verhältnisse. Nach dem Tod Philipps von Schwaben (1208) wird Otto IV. 1209 in Rom zum Kaiser gekrönt. Entgegen anderslautender Versprechungen bricht er direkt im Anschluss an die Kaiserkrönung zu einem Kriegszug auf, um das Königreich Sizilien zu erobern, dessen Festlandsteil er Schritt für Schritt unter seine Kontrolle bringt. Mit knapper Not entkommt Friedrich II. der drohenden Gefahr einer vollständigen Niederlage, da ein Teil der deutschen Fürsten ihn 1211 zum „anderen Kaiser“ (alium imperatorum) wählt und Otto IV. zur Rückkehr nach Deutschland gezwungen wird. Aber erst Jahre später gelingt es Friedrich II., auch mit Hilfe des französischen Königs (Schlacht von Bouvines 1214), sich durchzusetzen, in Aachen gekrönt zu werden (1215) und die Kaiserkrone zu erlangen (1220).


Einige Zeit später (1229) muss Friedrich II. seinen friedlichen Kreuzzug in Jerusalem beenden, ohne die Angelegenheiten im Heiligen Land abschließend klären zu können, um eilig nach Italien zurückzukehren, da päpstliche Truppen große Teile des Königreichs Sizilien besetzt haben. Papst Gregor IX. hatte Friedrich II. nicht nur gebannt, sondern ihm auch die Königsherrschaft abgesprochen. Wenngleich es Friedrich II. gelingt, sich in diesen Konflikten durchzusetzen, besteht die Notwendigkeit, die Befestigung des Königreichs Sizilien als wichtigste Machtbasis seiner Herrschaft stetig auszubauen.



Dieser Ausbau geschieht nicht nur in militärischer Hinsicht. Durch eine umfassende Verwaltungsreform und eine weitreichende Gesetzesreform (Konstitutionen von Melfi 1231), durch die Gründung der Universität Neapel (1224), die Verlegung der Residenz von Palermo nach Foggia (Apulien) und andere Maßnahmen versucht Friedrich II., aus dem Königreich Sizilien eine Art Modellstaat zu formen. Er fördert die Künste und die wissenschaftlichen Disziplinen, versammelt an seinem Hof „viri docti“, eine Gelehrtengemeinschaft von rund 200 Personen, welche auch damit beauftragt sind, wichtige antike und islamische Quellen zu übersetzen, auszuwerten und zu kommentieren. Friedrich II. erforscht persönlich und mit Unterstützung einer großen Zahl von Falknern die Vogelwelt Süditaliens und verfasst mit seinem „Falkenbuch“ (De arte venandi cum avibus) ein wissenschaftliches Standardwerk, dessen empirische Forschungsqualität für Jahrhunderte unerreicht bleibt. (2) Über sein eigenes Themengebiet hinaus befragt Friedrich II. die Gelehrten an seinem Hof und sendet Forschungsfragen an Wissenschaftszentren rund um das Mittelmeer, beispielsweise um die Struktur des Kosmos oder die Beschaffenheit der menschlichen Seele zu ergründen. Vor diesem Hintergrund kann Friedrich II. nicht nur als „Forscher“ (inquisitor) und „Liebhaber der Weisheit“ (sapientie amator), wie er sich selbst nennt, bezeichnet werden, sondern als Wissenschaftler bzw. Naturwissenschaftler, in der Terminologie des 13. Jahrhunderts als Philosoph bzw. Naturphilosoph.


In einer Chronik des 13. Jahrhunderts heißt es über Friedrich II.:


„[Er] bemühte sich selbst um die Philosophie, und wie er sie selbst pflegte, so befahl er auch, sie in seinem Reiche zu verbreiten. […] Der Kaiser selbst aber ließ in seinem Reiche Schulen der Freien Künste und jeder erprobten Wissenschaft errichten. […] Gelehrte aus allen Ländern der Welt lockte er durch die Großzügigkeit seiner Geschenke herbei, setzte ihnen wie auch den mittellosen Studenten ein festes Gehalt aus, damit die Menschen jedes Standes und Vermögens nicht auf Grund irgendeines Mangels von dem Studium der Philosophie abgehalten würden.“(3)


Es liegt nahe und drängt sich geradezu auf, die beiden Sphären, denen Friedrich II. so viel Bedeutung beigemessen hat, in einen Zusammenhang zu bringen: Baukunst und Philosophie. Bereits Carl Arnold Willemsen, Heinz Götze und Stefania Mola postulierten einen multiperspektivischen und interdisziplinären Ansatz, der philosophische Aspekte einbezieht, um dem Phänomen Castel del Monte angemessen zu begegnen. Heinz Götze wählte in den 1980er Jahren eine Methodik, welche archäologische und kunsthistorische Erkenntnisse mit kulturgeschichtlichen und ansatzweise auch mit philosophischen Konzepten verknüpfte, eine Vorgehensweise, die an die ikonologische Methodik Erwin Panofskys erinnert. Götze sieht in Castel del Monte einen Bau, der an antike, genauer noch an augusteische Traditionen anknüpft und seiner Ansicht nach sogar ein architektonisches Symbol der Pax Augusta repräsentiert.(4) Er erkennt zugleich Verbindungen zur antiken Philosophie, insbesondere zur platonischen Schule.(5) 


Innenhof Castel del Monte (Foto: Mancini)

Castel del Monte, so die These des Autors, ist geprägt von der geometrischen Form des Oktogons, wie es exemplarisch in Aachen (Hofkirche Karls des Großen) und Jerusalem (Felsendom) hervortritt. Das Bauwerk repräsentiert wahrscheinlich acht Herrschaften königlichen Rangs (Sizilien, Deutschland, Reichsitalien, Burgund, Rom (eingeschränkt), Jerusalem, Zypern, Sardinien.) in Verbindung mit der kaiserlichen Krone. Die acht oktogonalen Türmen und das zentrale Oktogon könnten diese Herrschaftsverhältnisse symbolisieren. Elemente der salomonischen und antiken Tempelarchitektur sowie antiker Triumphbögen aufgreifend (beispielsweise in der Gestaltung des Hauptportals), trotzt die Architektur geradezu triumphal den mächtigen Gegnern Friedrichs II., der 1239 zum zweiten Mal vom Papst gebannt wird und in den Fokus der päpstlichen Kreuzzugsbewegung gerät. Thematisch könnte der Bau modellhaft das Konzept des idealen Staates repräsentieren, wie es ursprünglich von Platon entworfen worden ist und später in der islamischen Philosophie intensiv kommentiert und diskutiert wird. Platons Lehre von der Unsterblichkeit der Seele gibt im 13. Jahrhundert die klarsten Antworten zur Erforschung der Seele, welche Friedrich II. nachhaltig beschäftigt. Pythagoreisch, platonisch und in gewissem Maße auch aristotelisch ist der Ansatz, Mathematik und Geometrie als Wegbereiterinnen der Metaphysik zu verstehen, wie es im 13. Jahrhundert geschieht und wie es möglicherweise im streng geometrisch konstruierten Castel del Monte gespiegelt wird.

Hauptportal von Castel del Monte mit Dreiecksgiebelfeld und Rechteckfeld (Foto: Mancini)

Augustusbogen von Orange mit Dreiecksgiebelfeld und Rechteckfeld (Foto: Mancini)

Die Vielfalt der Interpretationsaspekte reicht von gut abgesicherten Erkenntnissen bis hin zu spekulativen – jedoch nicht unbegründeten – Interpretationen. Im Bereich spekulativer Überlegungen sind diejenigen zur platonischen bzw. neuplatonischen Metaphysik sicherlich die weitreichendsten und gewagtesten. Sie ermöglichen allerdings zugleich eine Integration der vielfältigen anderweitigen Gesichtspunkte und Zugänge – auch derjenigen Aspekte, die in bisherigen Untersuchungen zu Castel del Monte zu wenig Beachtung gefunden haben: etwa die sorgfältige Analyse und symbolische Deutung der Mittelpunktsymmetrie, des Hauptportals, der Türme, der Innenraumgestaltung, des Meleager-Spolienreliefs sowie der Verwendung von Korallenbrekzie, ferner die Zählung königlicher Herrschaften in Verbindung mit der kaiserlichen Krone, die Untersuchung der baupolitischen Spiegelungen des strukturellen Konflikts zwischen Papsttum und Kaisertum (insbesondere vor dem Hintergrund entsprechender Bauten in Speyer, Cluny, Rom), eine noch konsequentere Untersuchung der Oktogon-Symbolik, eine stärkere Berücksichtigung der salischen und staufischen Memoria-Kultur, eine weitreichendere Auswertung der mittelalterlichen Interpretation des Felsendoms als Tempel Salomos, eine spezifischere Untersuchung imaginativer Bezüge zur antiken kaiserlichen Baukunst, eine noch konsequentere Beachtung der über die staufische Tradition hinausreichenden normannischen Kunst- und Architekturgestaltung einschließlich der außergewöhnlichen Fähigkeit, verschiedene Strömungen synkretistisch aufzunehmen und zu etwas Neuem zu formen.


Die Auseinandersetzung zwischen Kaiser und Papst spitzt sich nach dem Tod Honorius‘ III. (1227) zu. Von Gregor IX. (Pontifikat 1227-1241) wird Friedrich II. zweimal gebannt, wobei der zweite Bann bis heute nicht gelöst ist. Der Streit mit dem Papst entzündet sich 1227 an der Kreuzzugsproblematik, 1239 stehen Machtfragen im Mittelpunkt (insbesondere der Streitfall Sardinien). Papst und Kaiser ringen auf mehreren Ebenen miteinander. Relevant sind dabei auch Kunst und Architektur, die unter anderem auch politischen Zielen dienen.


Vor diesem Hintergrund erscheint Castel del Monte als Denkmal und Manifestation kaiserlicher Macht, die in der karolingischen, augusteischen und salomonischen Tradition ihre Wurzeln sucht, was sich auch in architekturgeschichtlichen Bezügen greifen lässt. Hierbei spielen neben antiken Bauwerken der als Restitution des Salomonischen Tempels verstandene Felsendom, das ravennatische San Vitale, die Aachener Hofkirche und wahrscheinlich auch die rheinischen Kaiserdome mit ihren gewaltigen oktogonalen Kuppeltürmen (insbesondere Speyer) eine besondere Rolle. Von den in Betracht kommenden Vorbildbauten, mit denen Castel del Monte einerseits signifikante Übereinstimmungen zeigt, unterscheidet sich das Bauwerk vor allem durch die offene Mitte und durch die acht mächtigen Türme, welche zugleich das wichtigste architektonische Machtsymbol der Zeit (in Italien), den Turm, repräsentieren und multiplizieren.


Das Bauwerk erscheint durch seine geographische Lage, seine Silhouette, Struktur und Innenausstattung geradezu als ein architektonisches Modell für den idealen Staat, wie ihn Platon entwickelt hat und wie er besonders in den islamischen Quellen, zu denen Friedrich II. Zugang hatte, bis ins 13. Jahrhundert hinein intensiv diskutiert und kommentiert wird. In Platons idealem Staat herrschen Vernunft und Gerechtigkeit, vertreten durch eine Gemeinschaft von Philosophen, ggf. auch durch einen Monarchen, der zugleich als Philosoph qualifiziert ist. Metaphysische Aspekte dienen hier nicht machtlegitimierenden oder machtpolitischen Zielsetzungen, sondern weisen dem Staat die Aufgabe zu, den Seelen einen Aufstieg in die Transzendenz zu ermöglichen. Nach Platon soll der explizit als Stadtstaat (Polis) konzipierte Staat in erreichbarer Nähe zum Meer, jedoch nicht direkt an der Küste liegen. Die Häuser der Bewohner sollen gleichartig sein und einen Mauerring bilden. All dies findet Entsprechungen in Castel del Monte. Drei Stände bilden den Staat, dessen Struktur sich modellhaft auf Castel del Monte übertragen lässt: Das innere Oktogon kann als Herrschaftsbereich den Philosophen (oder dem Monarchen; erster Stand) zugeordnet werden. Die oktogonalen Türme korrespondieren mit den Wächtern (zweiter Stand). Das Umland, das sich in Castel del Monte bis heute als außergewöhnlich weitläufig erweist, entspräche dem Bereich der Bauern, Handwerker, Gewerbetreibenden und Händler (dritter Stand). Im Inneren des Bauwerks könnten die gleichartigen Räumlichkeiten auf die Gleichrangigkeit der Philosophen hinweisen. Die im Obergeschoss (in allen Räumen) umlaufende steinerne Sitzbank, die für die mittelalterliche Burgenarchitektur ganz außergewöhnlich erscheint, würde zusammen mit den Sitzbänken in den erhöhten Fensternischen auf die typische platonische Dialogsituation verweisen, in der zwei oder mehrere Gelehrte vor einer Gruppe von Interessierten oder Schülern diskutieren.


Wissenschaft nach dem vorherrschenden Verständnis des 13. Jahrhunderts reicht ausgehend von den artes liberales über Physik und Mathematik bis zur Metaphysik. Die konsequente Geometrie Castel del Montes lässt sich in diesem System an einer Schlüsselposition verorten, im Bereich der Mathematik, welche zwischen Physik und Metaphysik vermittelt. Die Mathematik bzw. Geometrie soll dazu beitragen, Naturbeobachtungen zu abstrahieren und durch eine übergeordnete Ontologie zu erklären. Dies führt hin zu den philosophischen, metaphysischen Gottesbegriffen des Unbewegt Bewegenden (Aristoteles) und des Sich verströmenden Guten (bonum diffusivum sui) (platonische Tradition). All dies verbindet sich mit einem philosophischen Wirklichkeitsverständnis, welches von einem einheitlichen Ursprung allen Seins ausgeht und die Rückkehr zu diesem Ursprung annimmt. Damit korrespondiert die metaphysische Verhältnisbestimmung des Einen zum Vielen bzw. des Ganzen zu seinen Teilen.


Insbesondere aus der Luftperspektive wirken diese Konzepte mit Blick auf Castel del Monte als Ansätze, welche die Mittelpunktsymmetrie und die Diffusion des Oktogons in acht weitere Oktogone plausibel erklären können und einen tieferen, geradezu kosmischen oder metaphysischen Sinn des Bauwerks erschließen, insbesondere wenn man bedenkt, dass in der antiken Philosophie Symmetrie als Inbegriff für Schönheit und Ordnung des Kosmos gilt, eines Kosmos, der sich ansonsten in der Gefahr befindet, ins Chaos zu stürzen.Dante Alighieri wird in der Monarchia genau diese Konzepte anwenden, um die Beschaffenheit und Struktur der idealen Herrschaft zu beschreiben (Monarchia, I, vi, ix, xv).


Spolienrelief auf der nordöstlichen Innenhofwand. Dargestellt ist höchstwahrscheinlich die Heimtragung des toten Königs Meleager (Foto: Mancini)

Marmorkapitell über einem Bündelpfeiler, sichtbar auch das für mittelalterliche Bauwerke ungewöhnliche opus reticulatum (oben links), welches bei Vitruv als Merkmal der augusteischen Zeit beschrieben wird. (Foto: Mancini)

Die mittelpunktsymmetrische Struktur Castel del Montes verweist nicht nur auf eine politische und wissenschaftliche (mathematische und metaphysische) Symbolik, sondern auch auf den großen Themenkreis der Memoria. In der Sepulkral- und Memorialarchitektur herrschen mittelpunktsymmetrische Zentralbauten (als Rundbauten oder Polygone) vor. Hierzu gehören auch die Jerusalemer Grabeskirche und im weiteren Sinne der Aachener Dom sowie der Felsendom. Der Aachener Dom wurde als Hofkirche und Oratorium Karls des Großen erbaut und übernahm nach dessen Tod zusätzlich die Funktionen einer Grabkirche und Memorialkirche. Dass die Aachener Hofkirche zu den Vorbildbauten für Castel del Monte zählt, ist in der Forschung unumstritten, auch wenn über Detailbezüge und den Charakter des Sakralen weitere Untersuchungen erforderlich erscheinen. Ebenso kann der Felsendom als Vorbildbau gelten, wobei grundsätzlich zu bedenken ist, dass der Felsendom im Mittelalter als Restitution des Salomonischen Tempels angesehen und dabei die umfangreiche Tempelsymbolik auf den Felsendom übertragen wurde. Die Tradition der Himmelfahrt Mohammeds wurde erst Jahre oder Jahrzehnte nach der Erbauung auf den Felsendom übertragen. Älter ist die vielschichtige Tradition, die den Felsen mit der Rettung Noahs, dem Abrahamopfer (und der Errettung Isaaks), dem „Brunnen der Seelen“, dem Zugang zur Totenwelt und mit der Himmelspforte in Verbindung bringt. Diese Tradition verband sich nachfolgend mit dem Thema der Himmelfahrt Mohammeds. Der Felsendom wurde in der islamischen Architektur zum Vorbild für Grab- und Memorialbauten, während die islamische Mystik die Himmelfahrt Mohammeds als Sinnbild für den Aufstieg der Seele zu Gott verstand.


Kaiser Friedrich II. steht in einer langen Tradition der Memoriakultur, zu der er persönlich in Aachen, Speyer und Palermo beitrug. Für sich selbst gab er im Testament nur spärliche Anordnungen, obwohl er insbesondere nach dem Kirchenbann von 1239 befürchten musste, dass Begräbnis und Memoria gefährdet sein könnten (wie das Beispiel Heinrichs IV. belegt, der erst viele Jahre nach seinem Tod in der Grablege des Speyerer Doms begraben wurde, nachdem der Papst ihn vom Bann gelöst hatte; der exkommunizierte König Manfred hingegen wurde nach der Niederlage von Benevent 1266 in einer Schlucht verscharrt). Viele Elemente Castel del Montes verweisen auf die Seelenthematik und Memoria, darunter die christliche, aber auch islamische und antike Symbolik der Achtzahl, die Form eines mittelpunktsymmetrischen Zentralbaus, das Spolienrelief auf der nordöstlichen Innenhofwand mit Thema der Heimkehr des toten Königs Meleager. Aber selbst wenn der Kaiser es nicht beabsichtigt haben sollte, so erinnert Castel del Monte wie kein anderes Bauwerk an Friedrich II. als einen Herrscher, der ein vormodernes Rechts- und Staatswesen formte, in der Kunst Apulien eine Protorenaissance erweckte und als Vorreiter eines empirischen Wissenschaftsverständnisses gelten kann. Castel del Monte, gewissermaßen als Frucht auch des normannischen Baustils im Sinne eines reifen Synkretismus symbolisiert zugleich eine im Wachstum begriffene europäische Kultur, die im Sinne der mittelalterlichen Vernetzungsmöglichkeiten global ausgerichtet war und dies heute noch ausstrahlt.


Anmerkungen


(1)
 Mola (2011), S. 71.


(2) Vgl. Houben (2008), S. 44; Stürner (2003), S. 345f.


(3) 
Nicolaus de Jamsilla [zugeschrieben], Historia de rebus gestis Friderici II imperatoris eiusque filiorum Conradi et Manfredi (2. Hälfte des 13. Jhds.), zit. nach der Übersetzung von Klaus Heinisch (Kaiser Friedrich II. in Briefen und Berichten seiner Zeit [Quellensammlung (I)], S. 637f.).


(4)
 Götze (1986), S. 100; Götze (1991), S. 53f.


(5) Vgl. Götze (1986), S. 72f.




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